... Was wir gemeinhin Freunde und Freundschaft nennen, sind nur Bekanntschaften und vertrauliche Beziehungen, geknüpft vom Zufall oder der Bequemlichkeit, die gewöhnlich den Verkehr der Gemüter vermittelt. In der Freundschaft, von der ich rede, vereinigen sich und verschmelzen diese so vollständig, dass sie verschwinden, und auch die Naht, die sie verbunden, nicht zu entdecken ist. Wenn man mich zu sagen drängt, warum ich ihn ( ... Étienne de la Boétie ...) liebte, so fühle ich, das lasse sich nur durch diese Antwort ausdrücken: "Weil er es war; weil ich es war". Weit über jeder Erörterung und Allem, was ich davon im Einzelnen sagen kann, steht rätselhaft eine unerklärliche und übermächtige Kraft da, die diesen Bund gestiftet. Wir suchten uns, noch ehe wir uns gesehen hatten, und zwar aus gegenseitiger Einwirkung, die unser Fühlen weit stärker beeinflusste, als es sonst der Fall ist; ich glaube, es war ein Geheiss des Himmels. Zuerst begrüssten sich unsre Namen; bei unsrer ersten Begegnung - zufällig auf einem grossen Feste in städtischer Gesellschaft - fühlten wir uns dermassen von einander hin und so vertraut und so eng verbunden, dass seither kein Ding uns so nahe trat, wie wir einander. Er schrieb ein lateinisches Gedicht ... hierin entschuldigt und erklärt er die Augenblicklichkeit unsres Einvernehmens, das so bald ein so völliges wurde. Da es nur zu so kurzer Dauer bestimmt war und spät begonnen hatte (denn wir beide waren erwachsne Männer, und er mehrere Jahre älter), so war keine Zeit zu verlieren, und brauchte es sich nicht an das Beispiel sanfter und hergebrachter Freundschaften zu halten, die der grossen Vorsicht langer vorhergegangener Aussprache bedürfen. Eine Freundschaft wie die unsre hat nur sich selbst im Sinne und kann nur selbst sich beeinflussen. Nicht war es eine besondere Absicht, auch nicht zwei, nicht drei, nicht tausend; es war eine unerklärliche Quintessenz davon, die seinen Willen ergriff und wie im Hunger oder Wettkampf in dem meinen aufgehen und sich verlieren liess; ich sage sich verlieren: denn fürwahr, keinem von uns blieb etwas Eignes übrig, etwas, das nur sein oder nur mein gewesen wäre. [...] ... Alles Gerede der Welt ist ausser Stande, mir die Gewissheit zu rauben, die ich von den Absichten und Meinungen meines Freundes habe: nicht eine seiner Handlungen, sie habe welchen Anschein sie wolle, könnte man mir vorhalten, deren Triebfeder ich nicht sogleich erkennen würde. Unsre Seelen sind so einmütig zusammengegangen, sie versenkten sich ineinander in so leidenschaftlichem Drange und lernten einander gleich leidenschaftlich bis ins innerste Mark so sehr verstehen, dass ich nicht blos die seine gekannt wie die meine, sondern auch ich meinesteils ihm zweifellos mehr getraut hätte als mir selbst. Gefälligkeiten und Wohltaten, von denen sich die andren Freundschaften nähren, verdienen bei diesem herrlichen Verhältnisse überhaupt nicht in Berechnung gezogen zu werden; der Grund hiervon ist die völlige Verschmelzung unseres Wollens. Denn in der Tat, alles ist ihnen [den Freunden] gemeinsam, Willen, Gedanken und Ansichten, Hab und Gut, Weiber und Kinder, Ehre und Leben; ihre Übereinstimmung ist, wie Aristoteles es so sehr treffend erklärt, nur die Einheit der Seele in zwei Leibern. [Montaigne betont dann die Unmöglichkeit, mehr als einen Freund in dieser Weise zu lieben, und will in dieser Sache nur das Urteil derer gelten lassen, die sie selber durchlebt haben.] ... Im Altertum nannte Menander den glücklich, der auch nur dem Schatten eines Freundes habe begegnen können; und gewiss, er hatte Recht so zu reden, und sollte er selbst es auch erlebt haben. Denn in Wahrheit: mein ganzes übriges Leben verging mir durch Gottes Gnade sanft, leicht und, bis auf den Verlust eines solchen Freundes, ohne erdrückenden Kummer, dazu voll Seelenruhe, seit ich mich in die mir natürlichen und eignen Umstände gefunden, ohne nach andren zu fahnden. Vergleich ich aber dieses Ganze mit den vier Jahren, die es mir vergönnt gewesen, den lieben Umgang und die Gegenwart dieses Menschen zu geniessen, so ists nur ein Rauch, so ists nur eine finstre öde Nacht. Seit dem Tage, da ich ihn verlor, den wehe Erinnerung immer in Ehren mir halten wird ... seither schleppe ich mich verschmachtend dahin: sogar die gelegentlichen Freuden verdoppeln, anstatt mich zu trösten, den Gram um seinen Verlust: wir teilten uns in allem: mir ists, als raubte ich, was ihm zukommt. Und jeder Wonne habe ich mich entschlagen, solange er, der mir Genosse, fehlt. Ich hatte mich schon so hineingefunden und daran gewöhnt, überall der Zweite zu sein, dass ich mir nur mehr halb vorkomme. Da mir die halbe Seele entrissen hat Das allzueilige Schicksal, was leb ich noch, Da ich nichts wert, da ich nichts Ganzes? Beide zerschmetterte uns das Unheil An jenem Tage. Es gibt keine Tat, keinen Gedanken, bei dem ich nicht so zu sprechen hätte: würde er mir doch unbedingt Liebe erzeigt haben, denn ebenso wie er mich sonst in jeder Fähigkeit und guten Eigenschaft unendlich übertraf, so tat er es auch in den Pflichten der Freundschaft. |
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Michel de Montaigne 1578 |
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